Marché d’intérêt national de Lviv
Endlich kommt die erlösende Nachricht von der Autowerkstatt: Der Krankenwagen ist fertig, die Wasserpumpe und der AdBlue Einspritzer sind getauscht. Ich fahre sofort nach Berlin-Mitte, um das Auto ein letztes Mal zu prüfen und für die Tour nach Dnipro zu beladen. Dann geht es endlich los, mit 24 Stunden Verspätung verlasse ich in der Rush Hour die vollgestopfte Stadt über die B96, die A113 um endlich auf der A13 Richtung Polen zu steuern. Rzeszów ist mein Tagesziel, das sind 840 Kilometer und meine Freunde haben mich gebeten vor 1 Uhr nachts einzutreffen, damit sie öffnen können und auch noch ein wenig Schlaf finden. Es klappt.
Um 05:30 Uhr geht es weiter. Die polnisch-ukrainische Grenze ist wie ein Glücksspiel. Aber ich habe einen Joker: Die fünfeinhalb Tonnen Krankenwagen schinden kräftig Eindruck bei allen Beteiligten, ich werde ohne Fragen durchgewunken, und befinde mich nach einer Stunde in der Ukraine wieder. In einem Land, mitten in einem Krieg. Das achtzehnte Mal.
Und wie immer, ist meine Hilfe nur ein Regentropfen im Ozean. Ein lächerlicher Krankenwagen, gegen Marschflugkörper und duzende von Shahed-Drohnen, die wie umgebaute Rasenmäher scheppern, und Tod und Zerstörung für ein Schnäppchenpreis bringen.
Ich treffe meinen Kontakt in Lviv, an einer Nova Poshta. Es ist ein Kanadier mit ukrainischen Wurzeln. Ein Mensch, der sein kanadisches Leben mit dem Februar 2022 in den Standby gesetzt hat, und in der Ukraine als Freiwilliger kocht, Autos durch die Gegend fährt, Menschen evakuiert, übersetzt. Er wird begleitet von einem Arzt aus Italien, der für drei Monate in einem Stabilisierungspunkt der Armee arbeiten wird. – Die Nationalität ist aber egal. Für mich sind es Helden. Einfach nur Helden!
Gemeinsam bringen wir Pakete in die Poststelle. Viele Pakete gehen direkt in Frontnähe. Und sind vermutlich schneller dort, als ich wieder zu Hause sein werde. Und auch hier ist es nur ein Regentropfen in den Ozean. Wir drei umarmen uns zum Abschied. Ich bedanke mich bei Beiden: Für ihre Energie, ihre Kraft, ihren Einsatz. Und bemerke, dass sie in diesen kurzen 15 Minuten, drei Zigaretten wegrauchen. Helden. Die irgendwann sicherlich auch Hilfe brauchen werden. – Wir umarmen uns noch einmal, ich winke dem Krankenwagen nach und habe nun sechs Stunden Zeit, bis mich mein FlixBus zurück nach Berlin fährt.
Ich laufe einige Meter zum Stepan Bandera Denkmal, und setze mich an den Rand des Kinderspielplatzes. Der Stress fällt von mir ab. Ein Krankenwagen für Intensivtransporte kostet 400.000 Euro. Er ist heil geblieben. Es gab keinen Stress mit dem Zoll, kein Warten an der Grenze, keine Panne, kein Unfall, kein Diebstahl, keine gesperrte Straße. Ich spüre meine Erschöpfung nachdem das Adrenalin wegfällt, und schaue den Kindern zu. Sehe den Streit um eine Schippe, das Wegschnappen von Matchbox Autos, höre das Jauchzen auf der Schaukel. – Es sieht alles so normal und fröhlich aus. Aber ja, die Westukraine leidet nicht so stark unter dem Krieg, wie der Rest des Landes. Aber es ist eine Täuschung. Auch Lviv wird beschossen, bis kurz vor der polnischen Grenze werden Kraftwerke zerstört.
Der nächste ukrainische Winter wird bitterkalt und Stockdunkel. – Und wie immer denke ich daran, dass die Europäische Union eigentlich für Unterlassene Hilfeleistung verklagt werden müsste.
Ich habe mich auf meiner ersten Hilfstour in Lviv verliebt. Seitdem bin ich mit dem Auto x-mal durch die engen Gassen gefahren, habe gestaunt und mir vorgenommen, nach dem Krieg zu kommen und diese Schönheit zu entdecken. – Heute habe ich sechs Stunden Zeit für ein Speeddating. – Ich laufe los, bereit diese Stadt einzuatmen, zu erfühlen, zu spüren. Und ich lande wenig später auf einem Bazar, engste Gänge, voll mit Markthändlern, Gemüse, Fisch, Käse, Süßigkeiten, Kleidung von professionellen Händlern, aber auch bestückt von vielen alten Frauen, eingeklemmt am Rand, welche Gemüse in ihren Kleingarten anbauen und hier für wenige Hrywnja verkaufen müssen.
Die Stände sind voll, die Auswahl ist groß, aber bei einem Durchschnittslohn von 400 EURO, ist das Leben hier sehr, sehr teuer. Ich drängle mich durch die Besucherinnen, lasse mich mit dem Strom treiben, staune über bunte Süßigkeiten, frisch geschlachtete Hühner, selbstgemachte Mayonnaise in Einweggläsern, frischen Weichkäse, freue mich über die Interaktion zwischen Händlerinnen und Kunden und freue mich über die Normalität, auch wenn sie trügt. Dann treibe ich in eine Halle, voller Fleisch und Fisch. Es ist wie der Marché d’intérêt national de Rungis in Paris, der berühmteste Großmarkt der Welt. – Gut, ein wenig kleiner ist es hier. Und sehr osteuropäisch. Die Frauen, ihre Kleidung, diese selbstgenähten Blümchenschürzen, das Zerfallene und Provisorische, alles ist ein wenig alt und kaputt. Aber beeindruckend.
Geschlachtete Tiere liegen in den Auslagen, und Fisch gibt es hier auch überall zu kaufen. Es riecht kräftig nach totem Tier und ich staune welche Welt sich in dieser heruntergekommenen Halle, in Mitte des Bazars eröffnet. Und natürlich fällt mir auch Tolstoi ein: „Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.“ – Ein leichter Ekel beschleicht mich bei diesem Vergleich. 600 Kilometer weiter östlich beginnen diese Schlachtfelder, mit dem Blut, dem Fleisch, dem Töten, und trotzdem bin ich fasziniert. Ich mag Osteuropa. Es befindet sich in inmitten einer Transformation:
Hier sind Orte lebendig, welche mit jedem weiteren Schritt nach Westen immer undenkbarer werden. Und auch hier irgendwann nicht mehr existieren.
Und dieser Markt, dieser natürliche Umgang mit Lebensmitteln und Tieren, dieses Verhandeln über Preis, Qualität und Menge, empfinde ich als Stärke dieser Gesellschaft. Die ukrainische Gesellschaft steht vor einer riesigen Transformation: Sie muss einen Krieg gegen Russland gewinnen, die zerstörte Wirtschaft aufbauen und modernisieren, Perspektiven für die Bewohnerinnen schaffen, die Umweltverschmutzung und Minen beseitigen, Sühne lernen und die Frage von Schuld „Wo warst du? Was hast du geleistet?“ aufarbeiten. Sie muss das Militärische entfernen, sie muss zehntausende Invaliden mit Rollstühlen und amputieren Gliedmaßen integrieren, Erblindete, Taube, zehntausende junge Männer und Frauen mit massiven psychischen Belastungen und unsichtbaren Wunden aufnehmen. Sie muss Trauern dürfen und die Geschichten von zehntausenden gefallenen jungen Menschen in Ehren halten, und die Überlebenden, ihre Veteranen integrieren. Und dabei weiter nach Europa wandern, diese Gesellschaft hat sich mit dem Maidan 2013 auf den Weg gemacht und zahlt einen hohen Preis dafür. Bezahlt ihn gerade mit dem Leben ihrer tapfersten Männer und Frauen.
Die ukrainische Gesellschaft steht vor massiven Herausforderungen, aber niemand hier, kommt auf die schwachsinnige Idee Rechtspopulisten oder Faschisten zu wählen!
Und ich denke an die letzte Europawahl und die Art und Weise, wie die Bürgerinnen der europäischen Union diese transformativen Aufgaben bewältigen wollen: Mit Rechtspopulistischen und faschistischen Partien. – Und wieder überfällt mich ein leichter Ekel. Wir können noch viel von der Ukraine lernen. Und auch von diesem Markt! Der CO2 Abdruck beim Einkaufen ist hier garantiert überhaupt nicht messbar.
Mein FlixBus kommt verspätet an. Ich steige vor dem prachtvollen Hauptbahnhof ein, ein wunderschönes Gebäude wie es diese in Deutschland kaum noch zu bestaunen gibt. Wir erreichen gegen 20:00 Uhr die Grenze. Ich suche in meinem Kopf krampfhaft die Verniedlichungsform von Schneckentempo. Aber streng genommen geht es überhaupt nicht voran. Wir stehen ewig auf der Stelle.
Um 2 Uhr in der Nacht werden alle Fahrgäste zur polnischen Zollabfertigung gezerrt. Eine halbe Stunde versuchen die Beamtinnen die Passbilder mit unseren verwuschelten und zerknitterten Gesichtern in Einklang zu bringen. – Und dann komme ich schließlich nach zwanzig Stunden Busfahrt wieder in Berlin an.
Mein Popo schmerzt ein wenig, meine Knie ebenfalls. Aber schon erreicht mich die Nachricht, dass der Krankenwagen auch in Dnipro angekommen ist, und sofort schreibe ich, dass ich jederzeit wieder fahre und mich auf die nächste Hilfsaktion freue. Auch wenn es nur ein Tropfen im Ozean ist.